Gucken sie nicht so, ich komme vom Mars!
Luise ist 77 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann in Alsdorf. Sie kam mit einer Analatresie zur Welt, seit 1952 lebt Luise mit einem Colostoma. Ihre erste Stomaversorgung wurde vom Schlosser des Krankenhauses angefertigt. Als sie ihren späteren Mann kennenlernte, erzählte sie ihm zunächst nichts davon.
Zur Welt gekommen bin ich 1935 – mit einer Atresie. Damals waren die Ärzte ja noch nicht so weit und haben zu meinen Eltern gesagt: „Wir können nichts für ihr Kind tun, es muss leider sterben.“ Wenn Eltern so was hören müssen, das ist schlimm. Aber dann haben sie doch noch etwas versucht: Ich hatte auch eine Darm-Fistel, die wurde durch eine Operation als Ersatz für den fehlenden natürlichen Anus präpariert. Also noch kein Stoma, nur der Versuch, sozusagen einen künstlichen Anus herzustellen. Das war auch nicht das Wahre – ich hatte dadurch nämlich immer eine Inkontinenz. Ich musste in meiner ganzen Kindheit Vorlagen tragen. Und ach – das hat mich behindert in der Schule und so. Wenn andere ins Schullandheim fuhren, konnte ich nicht mit.
Dann kam der Krieg, und man hat sich eigentlich nicht mehr groß den Ärzten vorgestellt. Doch danach 1950 habe ich den Operateur von damals noch mal aufgesucht. Der hat erst mal gesagt: „Mein Gott, du lebst noch. Ja, aber so durch die Fistel – das können wir nicht so lassen. Wir versuchen, es richtig zu machen“. Daraufhin haben die eine sehr große Operation durchgeführt, natürlich wieder ohne Schließmuskel. Das hat auch nicht richtig hingehauen und danach kamen weitere 23 Operationen – in zwei Jahren! Diese Analöffnung, die ist immer wieder zugewachsen, musste immer wieder geöffnet werden. Irgendwann hatte ich aber ehrlich gesagt den Hals so voll. Und dann habe ich… es war zugewachsen, und ich habe es so gelassen. Als Notfall musste ich dann ins Krankenhaus. Da haben die dann gesagt: „Ja, da müssen wir einen Anus praeter machen.“ Früher sagte man das noch für ein Stoma.
Luise lebt mit einem Colostoma
So habe ich also erst 1952 mein richtiges Stoma bekommen, da war ich 17 Jahre alt. Es gab noch keine Stomatherapeuten, die einem heute zeigen, wie man ein Stoma versorgt, es gab fast gar nichts. Im Krankenhaus wurde mein Stoma nach der Operation erst nur mit Zellstoff versorgt. Danach kamen auf einmal die Krankenschwestern an mein Bett und hatten noch jemanden dabei. Ich dachte: „Mein Gott, haben die Ärzte jetzt Arbeitsanzüge an?“ Und das war dann der Schlosser des Krankenhauses. Der hat mir so eine Pelotte aus Blech angemessen und hergestellt. War ja wohl komisch. Die war aus Metall wie eine kleine Schüssel. Mit Lederriemen, die wurden um den Bauch festgebunden. Das Ding war scheußlich. Das Ganze war nur mit ein bisschen Zellstoff ausgelegt. Wenn sich der Stuhl in der kleinen Schüssel gesammelt hatte, wurde das entleert und wieder neu ausgelegt. Also, man konnte alles hören da in dem Blechding, und geruchsmäßig ging das gar nicht! Ich habe mich so auch nirgendwohin getraut, deshalb kann ich heute nicht schwimmen und ich kann auch nicht tanzen.
Ja, meinen Mann Jean habe ich 1955 in Saarbrücken kennengelernt, da war ich schon ein bisschen weiter. Ich hatte ein moderneres Versorgungssystem, das man ausspülen konnte. Aus Plexiglas, mit einem Gummiring. Das war dichter, also es war schon nicht mehr so schlimm. Wir haben uns im folgenden Sommer in der Bretagne wiedergesehen, da war ich mit meinen Eltern zum Camping-Urlaub in Plozévet an der Atlantikküste. Ich habe Jean gar nichts über mein Stoma gesagt. Das war mir peinlich. Aber wir haben uns danach ein Jahr lang geschrieben. Dann haben meine Eltern und ich ihn zu uns nach Saarbrücken eingeladen. Da ist mein Vater mit ihm mal weggegangen und hat ihn gefragt: „Wie sieht das denn jetzt aus mit euch beiden? Hast du Interesse an meiner Tochter oder nicht?“ – „Ja sicher“, hat Jean geantwortet. Mein Vater fragte weiter: „Weißt du, dass sie krank ist?“ Und Jean hat ihm gesagt: „Ja, ich habe mal so was gefühlt. Ich habe meine Schwester, die Krankenschwester ist, danach gefragt. Und die hat mir gesagt, dass da wohl so ein künstlicher Ausgang ist. Aber die Luise selbst habe ich darüber nie befragt.“ Und mein Vater sagt: „Ja, das stimmt. Und wie stehst du dazu?“ Da sagt Jean: „Ich liebe Luise. Wir werden auch zusammen bleiben.“ Und 1958 haben wir geheiratet.
In dieser Zeit kamen dann schon Stomaversorgungen mit selbstklebenden Beuteln zum Wegwerfen in den Handel. Erst mit Zinkoxid-Kleber wie beim Heftpflaster, danach gab es kurze Zeit diesen klebenden Karaya-Ring. Das war schon einigermaßen gut. Aber ich konnte das alles nicht vertragen, dagegen war ich allergisch. Seit 1972 habe ich jetzt eine zweiteilige Versorgung mit den heutigen Hautschutzplatten mit Hydrokolloid. Das funktioniert jetzt alles richtig gut.
Luise hat 60 Jahre Stoma-Erfahrung
Doch ‘ne Panne hab ich auch schon mal gehabt, auweia, beim Friseur wird die Versorgung undicht. Ich merke, dass auf einmal meine Kleidung feucht wird – und ich bekomme gerade eine Dauerwelle gemacht. Musste ich mich outen, die Mädels vom Friseur wussten ja nichts: „Ich habe einen künstlichen Darmausgang, mir ist eine Panne passiert. Bitte rufen sie meinen Mann an, der muss mich schnell nach Hause bringen.“ Jean ist sofort gekommen, um mich abzuholen. Und mit diesen Dingern da auf dem Kopf für die Dauerwelle musste ich erst noch durch den Herrensalon und alle guckten. Da habe ich nur gesagt: „Gucken sie nicht so, ich komme vom Mars!“ Und dann nach Hause. Naja, mein Mann kennt sich damit aus. Der hilft mir auch heute, wenn Not am Mann ist. Zu Hause also schnell alles ausgezogen, in die Badewanne gehüpft, neue Versorgung drauf, angezogen – und wieder hin zum Friseur. Ich durfte nicht länger als eine Viertelstunde wegbleiben, sonst hätte mir doch die Haare zu kraus gehabt! Was ich mich beeilen musste. Aber ich war noch in der Zeit und die haben nichts danach gesagt. Nur die eine Friseurin sagte nachher: „Ja, ich habe eine Tante, die hat auch ein Stoma.“
Das ist noch gar nicht so lange her, vielleicht so 12, 13 Jahre, da habe ich meine erste Stomatherapeutin kennengelernt. Durch die bin ich auch zu einer Stoma-Selbsthilfegruppe gestoßen. Ich habe dann 2006 hier in Würselen selbst eine Gruppe gegründet: FGS – Freunde und Gönner der Stomaträger.
Ich mache ja auch Besuchsdienst hier im Krankenhaus. Wenn die Patienten haben, die vor ihrer Stoma-OP ganz niedergeschlagen sind, rufen die Sozialarbeiter mich an, ob ich kommen könnte, mit denen zu reden. Dann unterhalte ich mich mit dem Patienten und frage ihn, warum er das Stoma bekommt. Mancher hat Krebs und sagt mir:“Ja, aber ich möchte nicht so leben – mit einem Stoma.“ Da sage ich: „Hören sie mal, den Krebs können sie besiegen – und das Stoma, das ist dann gar nicht mehr so schlimm. Und manchmal kommt das auch wieder weg, nur nicht drängen!“
Ich gehe auch im Internet in das Stoma-Forum. Ich war 65, da hat mir mein Sohn Georg meinen ersten Computer hingestellt und mir gezeigt: „So kommst du ins Internet, so kommst du wieder raus, so und jetzt guck.“ Ja, dann habe ich mich dort reingearbeitet. Mein Mann geht da bis heute nicht ran. Im Stoma-Forum lese mehr als wie ich schreibe. Nur ab und zu melde ich mich mal, aber nicht oft. Dafür habe ich meist erst abends Zeit, wenn ich mal eine ruhige Minute habe. Weil ich ja drei Kinder, fünf Enkel und sechs Urenkel habe.
Und ich mache mit meinem Mann Jean immer noch Camping-Urlaub. In der Bretagne.